Auf Facebook fand
ich vor einigen Tagen ein Banner mit msinngemäß der Frage „Welches Land haben
sie ins Herz geschlossen?“ Zu ihm fand ich Antworten – unter anderem von meinem
Freund Dirk. Er hatte die Ukraine ausgewählt und das mit landschaftlichen und
baulichen Schönheiten der Stadt Odessa begründet. Ohne diese seine Gründe zu
kritisieren, erlaube ich mir unter ganz anderem Gesichtswinkel zu antworten.
Seit fast 22 Jahren in diesem Lande formuliere ich meine Vorliebe anders: ich
liebe dieses Land seiner Menschen wegen. Begründe das mit einem nächtlichen
Erlebnis, das ich vor 21 Jahren hatte. Wir waren mit Nataschas Sohn Pavel nach
Sumy gefahren – einer Stadt in der Nordostukraine. Es schneite leicht unterwegs
und ich war auf den 500 km dorthin und auch zurück die einzige Person hinterm
Steuer. Auf unserem Wege lag auch die Stadt Romny, in welcher ich einen Vertrag
dem Molkereidirektor abschließen wollte. Nach dem Vertragsschluss fuhren wir
weiter nach Sumy, wo ich für den Transport der Trockenmilch nach Deutschland
mit dem Direktor eines internationalen Logistikunternehmens Verabredungen traf.
Es war Nacht geworden und gegen 21:00 Uhr fuhren wir zurück nach Bila Tserkva. Nach
etwa 200 km auf verschneiten Straßen und bei -20 °C kamen wir an eine Spitzkehre.
Auf ihr hatte der Wind eine Menge Staubschnee angetrieben. Ich hatte die
Geschwindigkeit gedrosselt, wir fuhren etwa 40 km die Stunde. Dennoch drückte
uns das Hindernis gleichmäßig langsam in den Straßengraben. Zum Glück war der
flach. Auf der Seite liegend, konnte ich die Tür nicht öffnen. Nur Pavel kam
auf der Beifahrerseite aus dem Auto.
Das um 23:00 Uhr auf einer sonst schon wenig
befahrenen Landstraße bei Schnee und niedrigen Lufttemperaturen. Stellen Sie
sich das bitte vor, mein Leser. Ein Fahrzeug, das weit hinter uns kam, hielt
auf Pavels verzweifeltes Winken nicht an. Denn der Fahrer wäre beinahe in
unserer Spur auf unserem Dach gelandet. Zu unserem ganz außergewöhnlichen Glück
kam aus der Gegenrichtung ein Konvoi von vier Lastwagen und zwei Personenwagen.
Diese Gruppe hielt sofort an. Mit einem Stahlseil an den kräftigsten der Laster
gekoppelt, kamen wir nach 20 Minuten wieder auf die Straße. Weil unser Tank
fast leer war, ich also Geld für die Rückfahrt weiter brauchte, konnte ich mich
nur mit einem ehrlichen Dankeschön bei den Fahrern bedanken.
Andere
Situationen freundlicher Hilfsbereitschaft habe ich später in der Ukraine sehr
häufig erlebt. Und das nicht etwa deswegen, weil mich meine Sprache als
Ausländer kenntlich macht. Denn ich spreche ein sehr ordentliches Russisch.
Um auf den gegenwärtigen
Moment zu kommen: vorgestern auf dem Basar wurde mir das Sauerkraut auf
Hausmacherart mit der Bemerkung verkauft, dass sich die Verkäuferin freue,
einen so netten Kunden bedienen zu dürfen. An einem anderen Stand wurde mir vom
Verkäufer der neueste ukrainische Witz erzählt. Jeden Morgen beim Spaziergang
treffe ich Hundebesitzer, welche sich mit mir zu unterschiedlichen Problemen
austauschen. Gehe ich am Flussufer entlang, gibt es grundsätzlich Unterhaltung
zu den Fangergebnissen der Angler. Ich habe also sehr engen Kontakt zu
unterschiedlichen Personen aus der Bevölkerung.
Es gibt auch
andere Erlebnisse. Auf dem Weg zum Basar am Sonntag saßen in einer Gasse ein
Mann und eine Frau friedlich auf einer Bank. Sie hatten etwas zu essen zwischen
sich liegen, das Getränk war aber kein alkoholisches. Die Frau wandte sich an
mich: „Entschuldigen Sie, das wir hier so sitzen.“ Ich antwortete, dass dies
ihre Sache sei und mich nichts angeht. Daraufhin kam die erstaunliche Frage:
„Sagen Sie bitte, Vater – haben wir eigentlich einen Staat?“ Daran, dass mich
viele Ukrainer als „batjko“ (Vater) anreden, habe ich mich schon gewöhnt. Aber
dass ich als politischer Ratgeber angesehen werde, ist immer wieder neu. Meine
Antwort versuchte ich sehr diplomatisch zu fassen. Sie wurde akzeptiert. Erfuhr
im Weiteren, dass die Fragestellerin Meisterin im Florett Fechten der
Sowjetunion ist. Während ich sprach, war ein etwa 40-jähriger Mann
herangekommen und hatte sich in etwas sehr grober Weise in unser Gespräch
eingemischt. Genauer: er hatte sich an die Sportlerin gewendet. Aber sehr unziemlich.
Sie machte ihn darauf aufmerksam, dass sie mit einem Deutschen spräche. Seine
Reaktion: „Was will denn der Hitler hier?“ Ich zog es vor zu gehen – mich mit
einem Ausnahmerabauken anzulegen hatte ich keine Lust. Wie die Russen sagen: „Ein
Teelöffel Teer verdirbt ein Fass voll Honig.“
Heute Morgen,
auf dem Rückweg vom Spaziergang, kam aus ihrem Kiosk die Verkäuferin Olga
heraus – mit einer Plastiktüte in den Händen. Sie wünschte mir nicht nur „Guten
Morgen“, sondern beglückwünschte mich auch zu meinem 80. Geburtstag. Überreichte
mir mit den Worten „Vielleicht ist das Geschenk etwas banal.“ diese Tüte mit
einer kleinen Flasche guten Cognac darin.
Bleiben Sie
recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen