Neubeginn



Auf diesem Blog habe ich sehr lange geschwiegen. Weil es mir schien, dass meine kleinen täglichen Erlebnisse lediglich für mich Bedeutung haben. Habe dann Post von jemandem bekommen, dass jenem meine Äußerungen etwas wert sind. Nach den Worten von Grafiker und Satiriker Wilhelm Busch: „Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge.“ Werde also wieder darüber schreiben, was an Kleinigkeiten mich täglich erfreut. Oder ärgert. Was mir auffällt. 

Beginne mit einem Erlebnis, das ein konkretes Datum hat: den 18. Mai 2016. Weil ich nach meiner OP zum Ersatz des Gelenks im linken Knie im Winter besonders vorsichtig gegangen bin, dennoch bei Glatteis zweifach stürzte, bin ich selbst im Frühling mit greisenhaften Trippelschritten durch die Gegend gezogen.  Vorsichtshalber. 
Im Frühjahr war Stieftochter Sveta mit Söhnchen Patrick aus der Gegend von München zu Besuch gekommen. Am Morgen des oben genannten Tages hatte der Kleine erstmals die Hände nach mir ausgestreckt und war auf meinen Arm gekommen.   
Der Duft des fast 80 Jahre jüngeren Kindes – einfach betörend. Der erlebte Zutrauensbeweis sowie der regelrecht belebende Duft des Kleinkindes wirkten auf mich wie eine Dosis anregenden Getränks. Fast automatisch fanden meine Beine beim Morgenspaziergang mit dem Hund wieder zu ihrer gewohnten Schrittlänge! 
Erstmals in meinem Leben habe ich ganz direkt erlebt, wie der Umgang mit den Jüngeren uns ältere Menschen merkbar verjüngt. 
Am selbigen Morgen kam eine  Amsel – auch Schwarzdrossel genannt – in mein Sichtfeld. Sie ist im Gegensatz zu den vorwiegend braun gefärbten Singdrosseln durchgehend schwarz im Federkleid, wogegen der gelbe Schnabel deutlich absticht. Außerdem ist sie sichtbar größer als andere Drosseln. Auf unserer Spazierallee habe ich sie erstmalig gesehen – im bekannten Stadtpark Alexandrija häufiger. 

Einige Tage später: mir lief mit trippelnden kleinen Schritten eine bejahrte, aber dennoch recht ansehnliche Frau entgegen. Vor mir fiel sie in Schritt und wünschte einen Guten Morgen. Ich dankte höflich und wollte weiter gehen, als sie sagte: „Mein Herr, ich lade sie ein, mir gleich hinterher zu laufen.“ Da war ich regelrecht verdutzt. Antwortete ihr: „Für uns beide sollte die Zeit vorbei sein, einander hinterher zu laufen.“ Sie sagte etwas wehmütig: „Na ja, ich bin eben doch 81 Jahre alt.“ „Ich stehe erst vor dem 80-sten.“ „Was, sie sind jünger?“ Nach fünf Minuten wusste ich, dass sie eine Operation am offenen Herzen hinter sich und eine Tochter in Kanada hat. Unter Hinweis auf meinen ungeduldigen Hund ging ich nach Verabschiedung meines Weges – sie begann wieder zu laufen.

Nach etwa zehn Tagen lief ein Mann von etwa 50 Jahren über eine Kreuzung rasch auf mich zu, entbot mir seinen Morgengruß. „Sagen sie bitte, sind sie wirklich ein Bundesbürger und schon sehr lange hier in Bila Tserkwa? Ich heiße Vitalij.“ Nach meiner Antwort wollte er wissen, weshalb wir mit Natascha nicht nach Deutschland übersiedeln. Als ich ihm erklärte, dass meine Frau das nicht möchte und ich es in der Ukraine für psychologisch wärmer empfinde, sagte er: „Das ist erstaunlich. Sie sind ein Prachtkerl. Meine Tochter lebt seit acht Jahren in Deutschland, im Rheinland, etwa 12 km von Köln entfernt.“ Er entschuldigte sich überraschend – ein Freund mit Auto war herangekommen. Wünschte uns das Allerbeste.

Als letztes Beispiel: vor etwa zwei Wochen auf dem Rückweg vom Morgenspaziergang nach knapp drei Kilometern grüßte mich eine Frau, die neben einigen anderen frische  Blumen aus eigenem Garten am Wegesrand anbot. Höflich antwortete ich – wurde aber von ihrer Frage beinahe geschockt: „Wie geht es ihren Beinen?“ Wahrscheinlich sah ich danach nicht besonders intelligent aus. Sie, eine bis zu diesem Morgen völlig Unbekannte, setzte fort: „Die Narben ihrer Venenoperationen an den Beinen sind zu sehen. Das habe ich auch. Wie geht es ihnen damit?“ Da musste ich antworten. Dass ich der Hitze wegen seit einigen Tagen die Elastikstrumpfhosen nicht angezogen habe. Sonst aber in den Narbenbereichen keine Beschwerden verspüre. Sie zog ein wenig ihre Kittelschürze hoch – ich sah die aus dicken Binden bestehenden recht unförmigen Wickel. Danach meinte sie: „Wenn sie gute Elastikstrümpfe haben, sollten sie die tragen. Ohne diese provozieren sie doch ihren vorzeitigen Tod.“ Ich versprach es ihr und stellte mich am folgenden Morgen darin vor. Sie lächelte. Seitdem grüßen wir einander.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger






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