Wendelstein neu ... (2)



Am Vortag von Svetas Geburtstag gab es ein Geschenk für Pascha. Ein Besuch mit ihrem Mann im Münchener Fußballstadion, zum Spiel TSV 1860 gegen 1. FC Nürnberg. Das Stadion mit 68.500 Zuschauern fast voll. Weil München gewann (etwas unverdient, wie ich meine), war nach Rückkehr die Stimmung glänzend und der junge Ukrainer überwältigt. Vor allem von der reibungsarmen Organisation. 
Das gemeinsame Mittagessen am folgenden Geburtstag fand beim „Chinesen“ am Stadtrand von München statt. Zum recht moderaten Festpreis je Person konnte vom sehr bunten und mit wohlschmeckenden Gerichten vollen „schwedischen Buffet“ gegessen werden, was jeder so konnte. Weil die Gäste vor uns die Großgarnelen schon auf ihren Tellern hatten, saßen wir ein wenig neidisch vor unseren Portionen. Natürlich ohne das zu zeigen. Denn es schmeckte ja.
Pavel hatte aber bemerkt, dass Großgarnelen nachgefüllt worden waren. Er stand auf, nahm einen großen Teller und füllte den mit den schmackhaften Schalentieren. Kam an unseren großen Tisch zurück und stellte seine „Beute“ auf den drehbaren Zusatztisch in der Mitte. Dass jeder sich bedienen konnte. Er hatte sich nichts daraus gemacht, dass die anderen Gäste seine Aktion mit gewissem Befremden registriert hatten. Nach seiner Meinung war die Gerechtigkeit wieder hergestellt

Am Folgetag fuhren wir nach Berlin, wo wir bei unseren belorussisch-ukrainischen Freunden für drei Tage übernachteten. Unterwegs machten wir einen Abstecher in die Lessingstadt Kamenz. Dort hatte ich vor 60 Jahren einen Freund gewonnen, den ich in seiner Stadt besuchen wollte. Eine Autofahrt durch die sächsische Kleinstadt, in der wir unsere militärische und fachliche Ausbildung erhalten hatten, zeigte, dass von einst rund 18.000 Einwohnern nur noch etwa 12.000 im Ort wohnen. Es tat sich das Bild  einer nach der „Wende“ gründlich entmilitarisierten Garnisonsstadt auf. Zwar nicht, wie es im Gedicht heißt: „Aus den leeren Fensterhöhlen starrt das Grauen….“ – aber doch etwas deprimierend. 
Am Flugplatz erzählte ich meiner Familie, wie in einer dunklen Herbstnacht der Posten, den ich ablösen sollte, versehentlich auf unsere kleine Gruppe schoss. Von der Hallenecke her. Glück gehabt. Alle beteiligten Seiten.

In Berlin musste ich zu Haus- und auch Facharzt. Die Diagnosen beruhigend. Aber in meinem Alter ist Voraussicht angesagt. Am Sonnabend fuhren meine Leute und Wladimir zum Flohmarkt, ich sah mich an anderer Stelle nach Büchern um. 
Kaufte "Die verblödete Republik“ von Thomas Wieczorek, ISBN 978-3-426-78098-5. Der Untertitel „Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen“ machte neugierig. Wieczorek hielt, was er versprach. Erinnert mich an einen Satz von Bismarck. Als der nach Bildung auf dem Dorf befragt wurde, sagte er direkt: „Es reichen zwei Ochsen vor dem Pflug und ein Esel dahinter.“ Wenn ich noch etwas empfehlen darf – „Dienstag bei Morrie“, Untertitel „Die Lehre eines Lebens“. Von Mitch Albom, aus dem Goldmann-Verlag. Anders, besonders, still. 
Zum Abendbrot am Sonnabend bewirteten meine in Bayern schon trainierten Ukrainer unsere Freunde mit schmackhaften Pelmeni. Am Pfingstsonntag brachen wir in der Frühe auf in die Ukraine. Die gewöhnlich gut ausgelasteten polnischen Straßen waren sehr durchgängig, wir kamen zügig voran. Leider waren wir an der Grenze erst, als auf beiden Seiten Schichtwechsel angesagt war. Deshalb brauchten wir trotz guter Ausgangsstellung mehr als zwei Stunden zu Überwindung dieses Hindernisses. 
Lange noch diskutierten wir mit Pavel über eine Änderung auf polnischer Seite. Der Grenzoffizier hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass unsere vorderen Seitenscheiben leicht getönt sind und laut neuer Festlegungen bei einer neuen Fahrt in diesem Zustand der Verglasung wir die polnische Grenze nicht passieren dürften. Pavel, der die Tönung vor unserer Reise erst organisiert hatte, war kaum zu beruhigen. Er bewies uns, die aus Erfahrung an Veränderungen gewöhnt sind, wie konservativ viele Ukrainer sind. Ihr absolut unbrauchbares Argument lautet: „Bei uns ist das aber …“. Diese Haltung wird sie noch lange begleiten, den Übergang zu westeuropäischen Normen und Ansichten nicht verhindern – nur erschweren. Natascha konnte auch diesmal für unsere Übernachtung einen günstigeren Preis im Hotel heraushandeln. Schlief deshalb besonders gut.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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