Konzert in Odessa



Es ist immer wieder interessant für mich, neue kulturelle Ereignisse zu erleben an bisher unbekannten Stätten. Meine Freunde in Odessa schlugen mir vor, gemeinsam ein Konzert des Nationalen Philharmonischen Orchesters Odessa zu besuchen. 
Dieses Orchester bekam seine Graduierung „Nationales“ in der Ukraine dank zielstrebiger Entwicklung unter der künstlerischen Leitung seines Chefdirigenten Hobart Earle, eines in Venezuela geborenen Amerikaners. Er kam vor über 20 Jahren nach Odessa und hat seither das Orchester in die internationale Spitzenklasse gebracht. 
Als Violinen-Solist war der gebürtige Ukrainer Andrej Below angekündigt, der gegenwärtig in Hannover lebt. Unsere Freundin sagte mir, dass er auf einer von der „Deutsche Stiftung Musikleben“ an ihn übergebene Guarneri-Violine spielen würde. 

Sehr erwartungsvoll fuhren wir in die „Philarmonie“, welche äußerlich als solche nicht unbedingt zu erkennen ist. Sie wurde aus der einstigen Odessaer Börse durch bautechnische Umgestaltung des Börsensaales in einen mit besserer Akustik zum Konzertsaal geschaffen. Die riesigen Fenster waren innen mit lichtdurchlässiger Plastikfolie abgedeckt, weil offensichtlich Beheizungsprobleme in der Winterszeit das erfordern. Dazu kommt, dass ich die Höhe des Saales für ganz außergewöhnlich fand. Die Stühle relativ hart, auf der linken Seite des Saales jene mit ungeraden Nummern, rechts die mit geraden. Eigenartig, weil noch nie erlebt. 
Die Bemerkung der Platzanweiserin: „Kommen sie ruhig näher, schämen sie sich nicht.“ fand ich etwas merkwürdig. Bis mir einfiel, dass ich sie auch mit „Genieren sie sich nicht.“ hätte übersetzen dürfen. 
Im Programm gab es drei Werke deutscher Komponisten – Franz Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven. Alle etwa stilistisch nicht weit voneinander entfernt. Für mich folglich leichter aufzunehmen. Keine Stimmungsbrüche wie zwischen Mozart und Schönberg vielleicht. 
Während der „Ouvertüre zur Zauberharfe“ von Schubert störte mich optisch eine Kleinigkeit. In der Gruppe der ersten Geigen saß eine kleine schlanke Frau, deren Bluse am unteren Rand relativ breit mit Pailletten besetzt war. Bei allen ihren intensiveren Bewegungen spiegelten die mir das Scheinwerferlicht in die Augen. So, wie wir in der Jugend Mädchen mit Spiegeln ärgerten…
Schumanns „Konzert für Violine und Orchester“ war ein Erlebnis besonderer Art – was Orchester im Zusammenspiel mit dem Solisten anbetrifft. Das sachkundige Publikum erreichte mit seinem nicht enden wollenden Beifall eine Zugabe. 
Im Solo „Largo“ von Bach habe ich dreierlei erfasst. Als erstes die virtuose Beherrschung des Instruments durch den Meistergeiger. Damit verbunden erlebte ich den nicht wiederzugebenden Klang der Guarneri – vor allem in den vollen tieferen Tönen. Und schließlich sah ich die für mich interessanten Reaktionen der Orchestermitglieder. Die von der musikalischen Verzückung vieler Damen bis zur sehr deutlich zu bemerkenden fachlichen inneren Einschätzung des Solisten durch einige männliche Musikanten reichte. 

Als paradox empfand ich, als nach dem Konzert ein junges Mädchen seine Kopfhörer aus den Ohren nahm. Aber vielleicht hatte es eine ältere Person begleitet, sich selbst aber lieber Musik des 21. Jahrhunderts angehört, weil ihm die "altmodische" (damals moderne) des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht zusagte. 

Wir müssen auch damit leben. 

Oder war das eventuell das Hörgerät für eine Schwerhörige?

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger 





Erneut Odessa...

Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung. Wegen privater Angelegenheiten erneut unsere Freunde in Odessa zu besuchen. Per Überlandbus in sechs Stunden zu erreichen. Der mit 15 Minuten Verspätung in Belaja Zerkow ankommende Bus konnte diese Zeitdifferenz bis zur Ankunft mühelos beibehalten.

Ein junger Mann in Uniform, deutlich erkennbar als von der "Ostfront" kommend, wurde nach Abfahrt von unserer ersten Raststelle mit 10 Minuten Pause sichtlich unruhig. Dann entnahm er seinem Rucksack ein Tablet, schaltete das auf "Navigation" und bekam unsere Bewegung auf der Trasse angezeigt. Nach geschätzt etwa 20 Minuten klappte er es zusammen, schob es in den Rucksack, schnallte jenen auf den Rücken. Danach holte er aus der Gepäckablage einen Strauß Rosen. Wenige Augenblicke später bremste der Busfahrer. Im Nieselregen stand ein junges Mädchen an einer Bushaltestelle, welches den jungen Mann nach dem Aussteigen liebevoll umarmte. Beide standen in dieser Haltung noch lange, nachdem der Bus wieder angefahren war. Schön für beide...

Bei Annäherung an Odessa wurde die Schneedecke auf den Feldern immer gleichmäßig geschlossener. Als wir in die Stadt einfuhren, waren die Spuren der vor einiger Zeit aufgetretenen extremen Verwehungen noch deutlicher zu sehen. An den Straßenrändern Schneehaufen von bis zu eineinhalb Metern Höhe, in ihrer Nähe nicht selten riesige Pfützen. Dirk, der mich mit Tanya getroffen hatte, scherzte in der Nähe des von ihnen mit bewohnten Hauses: "Hier sehen sie die Odessaer Seenplatte." 

Im Zusammenhang mit dem jungen ukrainischen Militär und dem gestrigen Datum erinnerte ich mich: an diesem Tag habe ich vor genau 70 Jahren meinen Vater, er damals Ausbildungsoffizier bei der deutschen Wehrmacht, ein letztes Mal gesehen. Am nächsten Tag vor eben dieser Zeit begann am 20. Januar 1945 unser aller Flucht aus dem damaligen Warthegau "heim ins Reich". Mein jüngster Bruder war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Hoch auf einem Leiterwagen, bei minus 20 Grad Celsius. Wir hatten Glück, kamen mit Hilfe eines Bekannten nach einiger Zeit auf der Ladefläche eines mit Plane geschützten LKW an allem Leid vorbei in die Nähe von Berlin. Die Flüchtlinge aus dem Donbass sind mir deshalb psychologisch nahe.

Gestern war in der Ukraine für alle orthodoxen Christen das, was die Christen in Westeuropa als Epiphaniastag feiern: die Erinnerung an die Taufe des Jesuskindes. Also gehen viele Leute "Eisbaden", werden anschließend von einem Priester gesegnet. Unsere Freunde fuhren mit mir in die Nähe eines in Odessa bekannten Männerklosters, wohin wir dann über schneematschige Straßen und durch Pfützen gingen, um "geweihtes Wasser" zu holen. Vier Sechs-Liter-Flaschen voll - gleich mit für unabkömmliche Verwandte. Angeblich heilkräftig. Für mich in der Art von Placebo verständlich. Auch sehr wohlschmeckend, wie mir ein großes Glas voll zur Probe bewies. 

Interessant war im Kloster die "neue Kirche" - ein ästetisch gut gelungener Kultbau, der innen bei mir keine düstere Bedrückung hervorrief wie die "alte Kirche", sondern mit ins Helle aufstrebenden Linien eher geeignet scheint, die christliche Auferstehungsidee zu verkörpern. Ich bedankte mich bei Tanya, dass sie mich dazu angeregt hatte, in dieser Kirche einige Minuten zu verweilen. Weil auch so seltene Baukunst-Erlebnisse das Leben bereichern.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





Reicher Abend...

Am Abend des 6. Januar wird in der Ukraine jährlich wegen der Unterschiede zwischen den gregorianischen und julianischen Kalendern für die aktuelle Zeitrechnung der westeuropäischen und orthodoxen Kirchen der Heilige Abend hier als "Reicher Abend" gefeiert. 
Er ist sachlich das "Fastenbrechen" nach dem so genannten "schwachen Fasten", welches an diesem Januar-Abend symbolisch nach Aufgang des ersten Sterns vollzogen wird. Das dazu gehörige Abendessen beginnt mit dem so genannten "kutja" - einer Speise aus Mohn, gehackten Walnüssen, Rosinen, gekochtem Buchweizen oder Weizen und einer "uzwar" genannten Flüssigkeit. Das ist ein leicht gesüßter Sud aus Wasser und Trockenfrüchten aller Art. Außerdem kommen dazu weitere elf Fastenspeisen.

In der wesentlich traditionsbewussteren Westukraine gehört neben dem Gebet vor dem gemeinsamen Essen (nicht selten in Volkstracht) dazu, dass der Esslöffel bis zum Abschluss in einem Teller oder Gefäß abgelegt wird, nie auf dem Tisch. Auch hat während der gemeinsamen Veranstaltung niemand das Recht, das Haus zu verlassen. Zum Abend gehört dort auch der gemeinsame Gesang von Liedern aus dem religiösen oder folkloristischen Bereich. 
Nach dem 22. Januar beginnt für aller orthodoxen Gläubigen das so genannte "strenge Fasten", das zeitlich bis zu den Osterfeiertagen dauert. 

Wir waren am 8. Januar bei etwas lockerer mit der Kirche verbundenen Bekannten ins Dorf zum "Reichen Abend" eingeladen. Aus den üblichen zwölf Fastenspeisen wurden uns nur vier vorgesetzt, dazu kamen jedoch sehr weltliche Gerichte und guter Wodka. 
Allerdings wurde ich dennoch überrascht. Denn plötzlich waren Kinderstimmen zu hören. Die Kleinen kamen sehr höflich als "kolodjaschniki" ins Haus - eine Art "Zauberer". Als sie nach ihren Bitt- und Wünscheversen zu singen begannen, war ich erstaunt. Es erklang das weltweit bekannteste Weihnachtslied "Stille Nacht, heilige Nacht" auf Ukrainisch. Das rührte an - weil nicht bestellt, weit entfernt von der in Deutschland üblichen Vermarktung auf den dort so kommerziell ausgerichteten Weihnachtsmärkten.

Am Folgeabend traf uns ein mittelschwer alkoholisierter älterer Mann. Er wollte von mir als Deutschem nach Glückwunsch zum Heiligen Abend wissen, ob Köln eine schöne Stadt sei. Seine dort seit langem lebende Schwester behaupte das. Ich habe nach meinen Eindrücken positiv geantwortet. 
Dann rief er ganz plötzlich: "Aber so etwas ist in Deutschland unmöglich!" Diesen Satz wiederholte er stereotyp, ohne mir auf meine sachbezogene Frage zu antworten. 
Weil er immer lauter wurde, dazu beängstigend mit den Armen umherfuchtelte, erschien das für Hund Kai als Bedrohung. Er warf sich laut bellend auf den fast in seiner Reichweite befindlichen "Angreifer". Der erschrak, ich musste ihn beruhigen und gleichzeitig den Beschützer Hund loben. Wir trennten uns - er sehr laut vor sich hin brabbelnd. Unaufgefordert hat unser gutmütiger Spaniel gezeigt, dass er seine Meinung zu bedrohlichen Situationen hat.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 





Neues Jahr

Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner hat zu diesem Anlass sehr treffend formuliert: "Wird`s besser? Wird`s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich." 
Wer in dem vergangenen Jahr aus Altersgründen friedlich von uns ging, schwerer Krankheit erlag, beim Unfall um Leben oder Gesundheit kam, in Kampfgebieten getötet oder verstümmelt wurde, hat diese knappe Wahrheit leider am eigenen Leibe erfahren müssen. Über uns, die  am Leben und gesund Gebliebenen kam gleichzeitig das mit oben Gesagtem auch verbundene seelische Leid. 

Lassen wir uns deshalb in 2015 eins zu Eigen machen, wenn wir es bisher noch nicht verinnerlichen konnten - die Lebens-Auffassung des bekannten Urwaldarztes Albert Schweitzer: "Optimistisch ist diejenige Weltanschauung, welche das Sein höher als das Nichts stellt und so die Welt und das Leben als etwas an sich Wertvolles bejaht."
Denn dann haben wir jene Grundstimmung, die uns trotz aller als der Gegenpol zum Angenehmen existierenden Widrigkeiten auch über schwere Stunden hinweghilft. Wie vom französischen Dramatiker Jean Anouihl ausgedrückt: "Die wahren Lebenskünstler sind schon glücklich, wenn sie nicht unglücklich sind."

Vor kurzem erst las ich einen Artikel im russischen Teil des Internets. Auf Deutsch: "Lachen sie ihre Krankheit aus." In ihm wurde aus Forschungsberichten zitiert, dass Personen mit positiver Lebenseinstellung nachweislich subjektiv besser mit ihrem Schicksal zurecht kommen und bei auftretenden Krankheiten rascher als andere gesunden. Weil ihre Immunität deutlich ausgeprägter ist. Diese Erfahrung habe ich ebenfalls sehr überzeugend gemacht - vor und nach elf überstandenen chirurgischen Operationen.

Das über Jahrzehnte Erlebte veranlasst mich, hier erneut jemanden zu zitieren. Aus Indien kommt die folgende Weisheit: "Unsere Freude beginnt, wo wir jemand anderes zum Lächeln bringen." Also ist es sinnvoll, Veranstaltungen im Fernsehen anzusehen oder zu besuchen, die uns gute Laune bringen. Denn wir können mit eigener guter Laune anderen und uns selbst Gutes tun. Beste Laune, Humor als kostenlose Medizin an Ihre Mitmenschen verteilen. So, wie es sehr eigenwillig schon vor fast 400 Jahren der "englische Hippokrates" Thomas Sydenham feststellte: "Die Ankunft eines guten Clowns ist für eine Stadt heilsamer, als die Ankunft von 30 mit Medikamenten beladenen Eseln." 
Wir sollten keineswegs zu den Narren werden, welche den Königen bessere Stimmung bescherten. Sondern nur ein wenig Freude in unsere Umgebung ausstrahlen. 

Wie es mir am Sylvestertag gelang. Das Erlebnis: auf unserem Heimweg kamen mir vier junge Frauen entgegen, die lebhaft miteinander redeten und lachten. Sie verfolgte ein herrenloser schwarzer Hund, dürr, aber etwa so hoch wie ein deutscher Schäferhund. Als sie auf meiner Höhe waren, sah ich, was das Tier so an sie fesselte. Aus einer Handtasche ragte etwa 15 bis 20 cm eines Baguettes heraus, das der hungrige Bello schon im Vorgenuss intensiv beleckte. Gänzlich unbemerkt von den mit sich beschäftigten Damen. Als ich die vier lächelnd auf die Situation hinwies, gab es lautes Gekreische. Der Hund wurde verjagt. Danach, bei meinem Besuch auf dem Basar, erzählte ich die Kleinigkeit zwei Bekannten, die darüber herzlich lachten. So brachte ich nur ein wenig bessere Stimmung in meine Umgebung durch Aufmerksamkeit auf bemerkenswerte Vorgänge und auch gegenüber anderen, vom Alltag gestressten Menschen. 

Die chinesische Weisheit  kann sich so erfüllen: "Als du auf die Welt kamst, hast Du geweint, und um Dich herum freuten sich alle. Lebe so, dass, wenn Du die Welt verlässt, alle weinen und Du allein lächelst."

Bleiben Sie recht froh und gesund im Neuen Jahr!

Ihr

Siegfried Newiger