Verbindung...

Vor einer Stunde etwa habe ich einen Post geschrieben auf  http://mein-ostblock.blogspot.com/2014/09/100-tage.html . Er sollte in Verbindung mit diesem gelesen werden.

Er ist einem Thema gewidmet, welches der bekannte "Mann auf der Straße" nicht als so wesentlich empfindet. Auch, wenn die politische Aktivität der Ukrainer in der letzten Zeit sehr intensiv geworden ist. 
Aber die aktuelle wirtschaftliche Situtation wird zunehmend von den Bedingungen bestimmt, wie sie schon vor längerem  durch Ministerpräsident Jazenjuk vorausgesagt wurden: sehr kompliziert und damit auch für den Einzelnen empfindlich spürbar. 

Denn genau genommen befindet sich der Staat Ukraine in einem unerklärten Krieg, der auf höchster Ebene aus gewissen politischen Rücksichten als "antiterroristische Aktion" bezeichnet wird. 
Dass außer den immer noch zunehmenden, beklagenswerten Menschenopfern der letzten Monate an der Front im Ergebnis der bewaffneten Auseinandersetzungen sowohl Arbeitsplätze als auch Exportgüter wegfallen, ist mit ein Teil der Ereignisse. Über die Zerstörungen der Infrastruktur wird später zu reden sein.

Das "Gürtel-enger-schnallen" kommt auf die Mehrzahl der Ukrainer zu - vor allem auf die Rentner. 
Hier in Belaja Zerkov macht sich das nun auch bemerkbar. Vor einiger Zeit wurde der Brotpreis angehoben. Das von mir bevorzugte gute Mischbrot mit Kleieanteil kostete plötzlich statt 3,70 Hrywna deren 4,60 - also eine Preissteigerung um rund 25 %. Die Preise auf dem Bauernmarkt (Basar) haben in abgeschwächter Form nachgezogen, aber doch merklich.

Die so sich verschärfende Situation formulierte ein Kiewer Bürger im Fernsehen: "Wir können uns nur noch die Hälfte leisten -  statt einem Kilogramm Tomaten oder Pflaumen nur ein halbes." 

Das vorerst Letzte in diesem Bereich - Mieten, Gebühren für kommunale Dienstleistungen und anderes mehr steigen zum ersten Oktober 2014 hier in der Stadt auf das Doppelte. Da werden viele gering Verdienende und Rentner weiter an den Rand der Existenzmöglichkeiten gedrängt. Im vollen Sinne dieses Wortes.

Mich beunruhigt ein anderer Teil dieser Entwicklung. Viele  Bürger reden offen davon, dass wegen dieser oben erwähnten unpopulären Entscheidungen ein neuer "Maidan" vor der Tür stehe. Das könnte - obwohl ich die Haltung nachvollziehen kann - für den weiteren Weg der Ukraine zu weiteren Schwierigkeiten führen. 
Allerdings habe ich keine Empfehlung für eine weniger schmerzhafte und sachlich wirkungvollere Entscheidung.    

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




            l .

Rotbart...

Mein eigenes Er-Leben: Augen auf und anschauen, was da alles Gutes in der Welt passiert. Ohne das Traurige zu übersehen. Aber es sind einfach häufiger Hochzeitskutschen sicht- und hörbar als die unvermeidbaren Fahrzeuge der Bestattungsunternehmen. 
Als wir heute in der Frühe spazieren gingen, kam uns eine junge Frau entgegen. Ohne Bart, dafür mit einem breiten roten Gürtel um die graue Bluse über der mittelblauen Hose. Die dunkle Jacke leicht geöffnet. Passend zu Figur und Haaren gekleidet. 
Als ich das erfasst hatte, beschloss ich, an diesem Morgen mit mir allein das recht alte amerikanische Spiel zu veranstalten: Achte auf den Rotbart! In freier Übersetzung. Es geht darum, dass mehrere Menschen sich verabreden, auf ihrem Weg durch die Stadt oder einen Park unter den Passanten eine Person oder mehrere zu entdecken, welche auffällig aussehen, gekleidet sind oder sich merkwürdig benehmen. Gewonnen hat, wer die meisten "Rotbärte" entdeckt. 
Meine nächste Entdeckung: eine stattliche und dazu große Frau ohne ein besonders eindrucksvolles Gesicht - dafür aber unter einem Poncho! Etwas in diesem Lande und in der Provinz sicher nicht Alltägliches. Sie zeigte mit ihrem Gesichtsausdruck, dass sie sich ihrer optischen Wirkung wohl bewusst war. Da musste ich ihr einfach zulächeln. 
Als dritten sah ich einen Mann, welcher bei den +5 Grad Celsius nur in Sporthose aus dem Park gelaufen kam, ein deutlich feuchtes Handtuch in einer Hand. Einer der mir bekannten Abhärter und Walrosse (Winterbadender) - sonnengebräunt, sehnig, schlank und deutlich fit.
Danach, auf dem Rückweg, fiel die besonders breite Rückenfront einer etwa 60-jährigen Dame auf. Die blaue lange Jacke war durch eine weiße Doppelleiste abwärts getrennt, mit ebensolchen weißen Knöpfen dazwischen. Das ergab einen günstigen optischen Effekt hin zur Verschlankung. 
Die fünfte Beobachtung: ein besonders schlankes junges Mädchen trug eine sie "sichtbarer" machende hellgraue Wolljacke mit quergestellten bunten Volkskunst-Ornamenten. 

Auch unser Hund hatte wieder bewiesen, dass er "mitdenkt". Als ich ihn vor Überschreiten der Straße anleinen wollte, damit er nicht wieder ausreißen konnte, kam er als ich den Karabinerhaken der Leine herabbaumeln ließ, direkt an die Seite und so nahe, dass ich ihn festmachen konnte. 
Nach einem fröhlichen Wortwechsel mit unserer Verkäufer-Freundin Olga kam ich folglich wohlgelaunt zu Hause an. Gute Laune, eine Vorstufe zu Lebensglück, ist machbar durch uns selbst!

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 

Was, wenn kein Instinkt?

Pünktlich zum 21. September wurde in diesem Jahr der Übergang vom Sommer zum Herbst vollzogen. Die lange Schönwetterlage ist ganz plötzlich zu einer Regenzeit mit intensivem Temperatursturz geworden. Als solches nicht besonders erwähnenswert. Nur sind die Spaziergänge mit Hund dabei erwartungsgemäß nicht so angenehm und deshalb merklich kürzer als gewohnt. 
Heute in der Frühe war es nun sehr windig, einzelne Bäume in der Nacht umgebrochen. Vor allem solche, welche die Stadtreinigung hätte vorsichtshalber schon längst abholzen lassen müssen. Aber hier ist man damit - vor allem aus Finanzmangel - nicht so rasch.

Der täglich an mehr Freilauf gewöhnte Hund hat nicht zu erkennen gegeben, dass er sich an eine läufige Hündin erinnerte. Sondern beim Einbiegen in unsere Straße, nicht angeleint, machte er sich auf und davon. Ohne wie gewohnt auf Rufe oder Pfiffe zu gehorchen. Weil ich Temperatursturz und Wind unterschätzt hatte, war ich für diese morgendlichen Bedingungen sehr sparsam bekleidet. Den Hund hätte ich sowieso nicht einholen können. Also ging ich heim, zog mir einen Pullover über. Machte mich dann auf zur Holzbrücke über den Fluss Ros. Dorthin kam unser Kai immer, wenn er einmal auf der Duftspur einer läufigen Hündin ausgerissen war. 
Nur fand ich ihn diesmal nicht gleich. Nachdem ich noch in einen bekannten Weg eingebogen war, der zu seiner uns ebenso bekannten Freundin führte, war von ihm nichts zu sehen. Also wanderte ich zurück zur Brücke. Traf dort einen Bekannten, wir plauderten ein wenig. Plötzlich kam mein Bello gelaufen - aus Richtung Wohnung. 
Die Standpauke und einen leichten Hieb hinter die Ohren nahm er gleichmütig entgegen. Wusste ja, wofür. Er musste nach meiner Meinung auf einer Parallelstraße zu mir gekommen sein. 
Allerdings war ich doch erstaunt, als mir unsere Hauswartsfrau sagte, sie hätte den Hund an den nahen Getränkekiosken getroffen, wo er eindeutig suchend herumgerannt sei. Sie hätte ihn "heimgeschickt". Dass Kai, nachdem er einen großen Bogen gelaufen war, mich anschließend "gefunden" hatte, ist wohl keine instinktive, sondern eine Vernunftleistung gewesen. Über die ich mich gefreut habe. Eines dieser kleines Stückchen Lebensglück.

Die etwas lautere Freude, richtiges Gelächter, löste der Anruf eines guten Bekannten aus. Er fragte meine Natascha, wo denn unser Auto wäre. Er hätte ein vom umgestürzten Baum zerstörtes gesehen. Auf die Frage, warum er bei uns anrufe, antwortete er - sich auf einen Vorfall im Winter beziehend - dass unser Fahrzeug doch Bäume anlocke. Wir lachten alle drei herzlich.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger 




Gebissene Zahnärztin...

Das tägliche Leben enthält für mich immer wieder die Überraschungen, welche es interessant machen. 
Da kam vorgestern plötzlich fast schräg über die breite Straße ein weißer Chevrolet-Jeep aus ukrainischer Produktion auf mich zugefahren. Der Lenker hielt an und stieg aus. Einzig zu dem Zweck, sich ein wenig mit mir zu unterhalten. Wir hatten einander schon lange nicht mehr gesehen. Er wollte gerne meine Meinung zur gegenwärtigen Situation erfahren, sich nach meinem Befinden erkundigen, ein wenig von seiner mir bekannten netten Familie erzählen. Und vor allem natürlich auch etwas mit seinem neuen Auto glänzen. 
Nach dieser angenehmen Begegnung folgte fast unmittelbar eine sehr entgegengesetzte. Ein Mann etwa in meinem Alter aus dem Bereich "Straßenbekanntschaften" kam auf mich zu und riß den Arm zum faschistischen Gruß hoch. Mit einem "Chail" dazu, das ich durch Protest und Zwischenruf abbrach. Ich würde ihn doch auch nicht mit einem Lebehoch auf Diktator Stalin begrüßen. Seinen ernsthaft vorgebrachten Kommentar: "Da herrschte noch Ordnung!" hörte ich, als ich ohne in die angebotene Hand einzuschlagen an ihm vorbei weiter ging. 

Am Nachmittag des Tages besuchte ich unsere Zahnärztin, Nachbarin mit ihrer Praxis im Nebenaufgang. Sie bereitete in der linken Oberseite meines Mundes zwei Träger für eine Brücke vor. Als sie mit dem Formhalter für die Abdruckmasse gerade ansetzte, kam eine andere Patientin gleich in die Praxis. 
Sie hatte wie viele andere hier aus - nicht besonders höflicher Angewohnheit auch in anderen Arztpraxen - schauen wollen, ob ein Zahnarzt anwesend war. Allerdings sagte sie nicht nur "Guten Tag!", sondern begann sofort relativ laut zu reden. 
Deshalb verstand ich die Bemerkung meiner Dentistin falsch und biß zu - sie in den Finger, mit welchem sie die Metallplatte andrückte. Sie schrie auf. Sie hätte mir nichts von Zubeißen gesagt. Natürlich wollte ich weder mit der laut störenden Besucherin noch mit der reizenden Ärztin eine Diskussion beginnen, sondern entschuldigte mich für meine "Beißerei" bei der Leidtragenden. Beteuerte, dass das nicht wieder vorkommen werde. 

Heute, zwei Tage später, bekam ich meine Brücke schon eingesetzt. Passt hervorragend. Sie ist von einem ihrer Söhne - Zahntechniker - eiligst angefertigt worden. Denn wir haben zu dieser Großfamilie und Zahnarztgeneration auch gute persönliche Beziehungen. Dass uns diese ausgezeichnete Arbeit nur 2.000 Hrywna oder rund 122 Euro kostete, wird deutsche Leser verwundern. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




  

Schick in der Fahne...

Am ersten September begann hier traditionsgemäß das neue Schuljahr. 

Im vom Krieg in seinem Ostteil gebeutelten Land gab es für die "nicht unter ukrainischer staatlicher Lenkung" befindlichen Gebiete einen Aufschub. Verständlich. 
Aber auch extrem unangenehm für jemanden, der mit den Menschen hier solidarisch ist. Darüber ist unter http://mein-ostblock.blogspot.com/2014/09/krieg-ansichtssache.html zu lesen. 

Allerdings hat die aktuelle Situation auch etwas Erfreuliches für sich. In unserer relativ ruhigen Region rund 80 km südlich von Kiew sind in den letzten Tagen zwei bunte Gruppen im allgemeinen Straßenbild aufgetaucht. 

Das waren für mich als erstes nach dem für den Schulanfang hier ganz typischen "Morgenappell" mit dem Gesang der Hymne des Landes - klang von der etwa 200 m Luftlinie entfernten Schule herüber - die diesmal besonders vielen Schülerinnen und auch Schüler in den unterschiedlichen Varianten der nationalen, genauer folkloristischen Kleidung.
Entweder ganz in Form von Kleidern oder teilweise - also zumindest in so sichtbaren Blusen oder Hemden. Genannt "wyshiwanka" - im Deutschen etwa "etwas Handgearbeitetes". 

Zum anderen etwas mehr als in den Ferienmonaten junge, hübsche und dem Anlass entsprechend besonders gekleidete Frauen. Eindeutig zu den Schülern gehörende Lehrerinnen. Typisch, dass ihr Anteil die Menge als Lehrer erkennbare Männer wesentlich übertraf. Ist wohl auch in Deutschland ähnlich. 

Viele der Genannten trugen zusätzlich an der Kleidung oder den Schultaschen (Rucksäcken) die staatliche ukrainische Symbolik - die blau-gelben Fähnchen oder Bänder. 

Hier erinnere ich mich an einen Vorgang zum Ende der 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ich war zu einem Vortrag des in der DDR (Deutsche Demokratische Republik) hoch geachteten Professors Jürgen Kuczynski. Er war bekannt für seine immer sehr offenen Antworten. Ihn hatte ich fragen wollen, warum in der DDR das Singen der Hymne des Landes nicht mehr üblich war. Mich hatte darin der Satz "...Deutschland, einig Vaterland..." zu einigen nicht ganz unkritischen Überlegungen angeregt. 

Leider hatte sich lange vor mir ein amerikanischer Journalist gemeldet. Über seine Frage und die gründliche Antwort des - wenn notwendig auch sehr systemkritischen - Professors vergaß ich mein Ansinnen. 

Zurück nach heute und zur Überschrift. Denn an genanntem Tag kam mir am Nachmittag in einer Gruppe ihrer Schülerinnen eine sehr gutgewachsenen, naturblonde Lehrerin entgegen. Die blaue Bluse passte sehr gut zu dem hellen Haar - und der zitronengelbe Rock über den hübschen Beinen machte die ganze Erscheinung weiterhin zu einer Augenweide für einen normal empfindenden Mann. Die Farben der Staatsflagge unterstrichen hier auf das Beste die Individualität der Trägerin - und ihr Anliegen. Die wachsende sehr eigene und positive Zugehörigkeit der sich von ehemaligen Untertanen zu echten Bürgern ihres Landes entwickelnden Menschen.

Die ganze Gruppe strahlte den Optimismus des einfachen, gewöhnlichen Lebens aus. Wie er für mich auch in jeder knospenden oder entfalteten Blüte zu sehen ist.


Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger