Erinnerungen meines Freundes



Drei Ereignisse

        Damals war ich noch ein sehr junger Chirurg, allerdings mit Erfahrungen aus dem Dienst bei der Marine. Meine Vorgesetzten mussten mein Talent als Arzt und als Lehrer mit bildhafter Sprache erkannt haben. Ich bekam den Auftrag, jüngeren Kollegen Vortrag zu halten über eine Operation an Bord kleiner Kriegsschiffe, die nicht eben selten war. Die Entfernung eines entzündeten Blinddarms. Da geht es um zweckmäßige Entscheidungen in kurzer Zeit, um Menschenleben zu retten. Der OP-Tisch ist allerdings nicht selten jener, an dem die Mannschaft das Essen bekommt – nicht der einer Klinik. Die Aufgabe wurde zur Zufriedenheit des Chefs und meiner eigenen erledigt.
        Einige Jahre später, ich war diensthabender Chirurg im Burdenko-Krankenhaus (damals zentrales Krankenhaus der Sowjetarmee), wurde ich mitten in der Nacht in die Kommandozentrale der sowjetischen Kriegsflotte befohlen – die sich damals noch in Moskau befand. Dort wurde ich über Sonderleitung mit einem unserer Schiffe im Indischen Ozean verbunden. Als ich mich meldete: „Oberstleutnant des medizinischen Dienstes Tscherkaschin“ kam die erstaunt-erfreute Antwort des dortigen Schiffsarztes: „Viktor Wassiljewitsch, sind sie es?“ Er hatte ein Problem. Der Patient war mit den Beschwerden erst sehr spät zu ihm gekommen. Die Gefahr einer Peritonitis bestand (Durchbruch an der entzündeten Stelle in den Bauchraum). Obwohl ich etwas Versäumtes bemerkt hatte, sagte ich dem Kollegen zur Beruhigung: „Sie haben alles richtig gemacht. Jetzt empfehle ich … Das folgende war Ärztedialekt, den brauchst du nicht aufzuschreiben. Die OP verlief nicht unproblematisch, aber erfolgreich.“
        Etwa ein Vierteljahr später kam ein Marineoffizier in mein Arbeitszimmer, meldete sich vorschriftsmäßig. Es war der Kollege, dem ich mit meinem Rat beigestanden und seine Reputation als Schiffsarzt aufrecht erhalten hatte. Er war in seinem Urlaub und vom Dienstort Wladiwostok mit dem einzigen Ziel nach Moskau gekommen, um sich zu bedanken. Ein nicht von der Regierung verliehener Orden.“

        Hier ist eine kleine Vorgeschichte nötig. Als zweites Ereignis. Wir hatten häufig  Veranstaltungen zur Weiterqualifizierung zu besuchen. Eine von denen war für mich prägend. Ein sehr betagter HNO-Professor empfing an dem Tage vor versammelter Mannschaft seinen belgischen Kollegen, mit welchem sie auf ihrem Fachgebiet als europäische Mitbegründer neuster Entwicklungen bekannt waren. Sie hatten sich jedoch vorher immer nur schriftlich ausgetauscht.
        Professor N. begrüßte seinen Gast und wandte sich mit ihm gemeinsam zwei Frauen zu, die wir bis zu diesem Moment kaum beachtet hatten.
        „Hier stelle ich ihnen meine wichtigste Mitarbeiterin vor – meine langjährige OP-Schwester.“ Er nannte ihren vollen Namen – der Gast begrüßte die Dame mit Handkuss. „Hier ist die zweite wichtige Frau in meinem Bereich – die Oberschwester (mit vollem Namen) hält darin ideale Ordnung.“ Auch sie wurde vom Gast mit Handkuss begrüßt. Danach wendete sich der Professor zum Auditorium und sagte: „Und das sind alle anderen!“
        Da begriff ich etwas für meine weiteres Berufsleben Wichtiges: die wesentlichen Personen im Hintergrund verdienen es, an unseren Erfolgen auch öffentlich beteiligt zu werden.
        Aber auch etwas Anderes habe ich später als Chef der Abteilung Orthopädie-Chirurgie immer beherzigt: Mitarbeiter sollen öffentlich gelobt, aber einzeln kritisiert werden. Besonders Frauen sind dafür dankbar. Wenn so eine „Sünderin“ mit rotem Kopf bei der Oberschwester herauskam, hat das gewirkt – aber nie auf das Arbeitsklima im Ganzen. Deshalb gab es über Jahrzehnte währen meiner Tätigkeit in dieser Abteilung nicht eine einzige Beschwerden bei unseren Übergeordneten.
        Außerdem war es bei uns üblich, für meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch dann da zu sein, wenn sie Probleme hatten, welche durch meinen Beistand beseitigt werden konnten. Deshalb berührte mich eine mir nach meinem Weggang in die Rente durch einen anderen Kollegen zugetragene Meinung aus der Abteilung tief: „Viktor Wassiljewitsch war ein Mensch.“

        Nun zu einem mit allem hier verbundenen Vorfall. Wir lagen in einem kleinen indonesischen Hafen, als sich bei einem Matrosen die Diagnose „Blinddarmentzündung“ bestätigte. Ich bat mit meinem unvollständigen Sprachschatz des dort üblichen holländisch-jiddischen Gemisches den Chefarzt des dortigen Spitals, mir seinen Operationssaal zu Verfügung zu stellen und, wenn möglich, seine OP-Schwester als Assistentin. Das Operationsbesteck hätte ich an Bord und würde es nutzen. 
        Da ich mit den dortigen Betäubungsmitteln nicht vertraut war, nahm ich die Operation unter örtlicher Narkose vor. Die Herstellung der Lösung aus destilliertem Wasser und pulverisiertem Novocain war bei uns damals schon so erprobt, dass sich der Kollege, welcher auch seinen Anästhesiologen unserem Team beigeordnet hatte, später darüber erstaunt zeigte. Mit der zierlichen und anscheinend sehr jungen und vermeintlich unerfahrenen OP-Schwester klärte ich vorab nur, wie „dicker Faden“ und „dünner Faden“ für die Nähte von mir bezeichnet werden würden.
        Dem Matrosen hatte ich vorab die Angst genommen, indem ich ihm erläuterte, wie oft nicht nur ich, sondern auch viele andere sowjetische Chirurgen diese damals neue Art der Betäubung schon angewandt hätten.
        Die Operation verlief sehr befriedigend, wenn auch nicht ohne Komplikation. Was mich am meisten freute, war die stille Professionalität der Indonesierin. Wir wirkten so zusammen, als hätten wir schon jahrelang gemeinsam im OP gestanden. Ohne ein Wort reichte sie in jeder Sekunde das, was ich beim Stand der Operation gerade brauchte!
        Am folgenden Tag fuhr ich in das Krankenhaus, um meinen Patienten zu besuchen. Mit ihm war alles in Ordnung – wir haben ihn am 5-ten Tag auf das Schiff geholt.
        Der Chefarzt, und seine Mannschaft waren beieinander, die zierliche OP-Schwester überreichte mir das inzwischen sterilisierte OP-Besteck in seinem metallischen Behälter. Ich bedankte mich offiziell für die Unterstützung, erklärte eindeutig, wie hoch ich die Hilfe der OP-Schwester einschätze. Dann überreichte ich ihr das gesamte Operationsbesteck. Es hatte nach unseren strengen sanitären Normen trotz seiner erhaltenen Gebrauchsfähigkeit abgeschrieben werden müssen.
        Ob die junge Frau es daheim als Erinnerungsstück aufbewahrt hat, bezweifele ich. Aber mich materiell anders zu bedanken, erlaubte mir unser damaliges „Taschengeld“ nicht. Wenn sie das Besteck also veräußert hat, konnte sie ihre materielle Lage etwas aufbessern. Wichtig war mir und hoffentlich auch ihr die öffentliche neidlose Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation.

        Diese Notizen über ehrliche Arbeit habe ich deshalb aufgeschrieben, weil bei meinem Besuch in Moskau Ende November so viele Informationen über Unehrlichkeit auf mich einprasselten, dass ich die Goethe-Worte beherzigen will: "Wahrheitsliebe zeigt sich darin, dass man überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß."

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger


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