Lesen sie ukrainisch?

Heute auf dem Basar

Meine Eheliebste hat ein untrügerisches Gespür. Vielleicht sollte sie an der Börse spekulieren? Jedenfalls geht sie hier zur rechten Zeit auf den Basar (auf deutsch etwa Bauernmarkt), wenn die Preise fallen, weil die Leute gut verkauft haben und heim wollen. Ich hatte die Lasten auf mich genommen und war nach Hause abkommandiert worden. Da kam mir Pjotr Nikolajewitsch entgegen. Ein 80 Jahre alter ehemaliger Seemann der Handelsmarine, mit einem Bart, der bei uns als "Schifferkrause" bezeichnet wird. Ich kenne ihn schon lange. Vor Weihnachten hat er seine Frau begraben, die er über ein dreiviertel Jahr aufopfernd pflegte. Als ich das erfuhr, habe ich ihm mein Mitgefühl ausgesprochen. Dazu habe ich formuliert: "Pjotr Nikolajewitsch, ein Wort unter Männern. Ich achte ihren Schmerz. Aber vielleicht ist es gut daran zu denken, dass ihre liebe Frau nun alle Qualen hinter sich hat."
Er sah mich damals sehr direkt an und meinte: "Siegfried, für diese Worte danke ich ihnen. Sie sind der Einzige, der mir diesen Trost offen aussprach. Andere hatten nicht den Mut dazu."
Heute nun fragte er nach der üblichen Begrüßung: "Sagen sie bitte, lesen sie auch ukrainisch?"
Das musste ich verneinen, fragte aber nach dem Grund der Bemerkung.
"Sie sind doch ein an allem interessierter Mensch. Ich habe ein Buch gefunden, ein schmales Bändchen. Von einem Mann, der 104 Jahre alt wurde, den ersten Weltkrieg miterlebte, Stalins Lager überlebte, überall in der Sowjetunion herumgekommen ist und nur starb, weil ihn ein Balken aus der Kellerdecke, den er richten wollte, erschlug. Aber das Buch soll auch in Russisch erscheinen. Das will ich ihnen schenken."
Wir plauderten noch ein wenig, verabschiedeten uns gewohnt freundschaftlich.

Auch das ist die - meine - Ukraine.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger

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